#19 | Die 5 größten Missverständisse, wenn wir über digitale Barrierefreiheit sprechen
Shownotes
"Bildung ist ein Recht für alle – und sollte in derselben Qualität allen Menschengruppen zugänglich gemacht werden."
Themen dieser Folge:
- Warum digitale Barrierefreiheit ALLE betrifft (Curb-Cut-Effekt und Co.)
- Was Barrierefreiheit wirklich bedeutet – über den Screenreader hinaus (s. dafür auch die vrherige Podcastfolge)
- Ist Barrierefreiheit teuer und aufwendig? Ein Realitätscheck
- Barrierefreiheit und schönes Design – geht das?
- list text hereDer Mythos der "einmaligen Aufgabe": Warum Barrierefreiheit ein Prozess ist
Ich freue mich über Feedback, deine Erfahrungen mit Barrierefreiheit oder weitere Themenwünsche. Schreib mir gerne unter kontakt@angela-maidhof.de oder auf Instagram @embrace.bildung! 😊
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Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge im Podcast Embrace Bildung! Der Podcast, der sich mal so richtig Zeit nimmt für Bildung und hinter die Kulissen der Bildungswissenschaft schaut. Mein Name ist Angela, und ich freue mich, dass du heute wieder eingeschaltet hast!
Ich habe in mehreren Folgen schon das Seminar von Vicky Engels und mir erwähnt, in dem wir auf der einen Seite Studierenden Präsentationsskills näherbringen, aber dabei ganz besonders auf Barrierefreiheit in dem gesamten Prozess achten. Und genau damit beschäftigen wir uns auch heute: Digitale Barrierefreiheit wird in unserer digitalen Welt immer wichtiger, und hat deshalb endlich eine eigene Folge verdient. Heute möchte ich fünf typische Mythen aufdecken, die viele von uns glauben, die aber nicht der Realität entsprechen. Wenn du z.B. denkst, dass Barrierefreiheit nur etwas für eine kleine Gruppe von Menschen ist, dass sie teuer oder langweilig ist, dann bleibe dran – denn du wirst überrascht sein, wie viel mehr dahintersteckt!
Damit würde ich auch sagen, fangen wir direkt an. Unser erster Mythos lautet „Digitale Barrierefreiheit, das betrifft doch eh nur 5 Hanseln im Rollstuhl / Digitale Barrierefreiheit ist nur für Menschen mit Behinderungen relevant“. Klingt vielleicht erstmal logisch, oder? Schließlich denkt man sofort an Personen, die z.B. blind oder gehörlos sind.
Aber die Realität sieht ganz anders aus.
Im Hochschulkontext haben laut der 22. Sozialerhebung 16 % aller Studierenden eine studienrelevante Beeinträchtigung. Die Zahl muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, das ist nämlich nahezu jede 6. Person die betroffen ist. In einem Seminar mit ca. 30 Personen wären das also ungefähr 5 Betroffene. Dabei beachtlich ist, dass die meisten dieser Beeinträchtigungen, nämlich 96 %, auf den ersten Blick unsichtbar sind, z. B. psychische Beeinträchtigungen wie Angststörungen oder Autismus-Spektrum-Störungen. Für die Gesamtgesellschaft habe ich keine aktuellen Zahlen, aber ich denke man erkennt auch so schon gut, dass es sich um deutlich mehr Personen handelt, als man so annimmt.
Außerdem gibt es auch noch eine Unterscheidung zwischen einer dauerhaften Beeinträchtigung, einer temporären, oder einer situationalen. Das klingt auf das Hören vielleicht erstmal abstrakt, aber ich bin mir sicher, dass du schon mal von einer situationalen Beeinträchtigung betroffen warst. Stell dir z.B. vor, du hast dir kurz das Knie angeschlagen oder einen Krampf im Bein und kannst deswegen gerade nicht so gut laufen. Oder du hast dir deinen Fuß gebrochen, und bist deswegen temporär eingeschränkt – denn Krücken sind nervig, aber in der Regel wirst du sie nach wenigen Wochen wieder los. Dahingehend wird der Rollstuhlfahrer seine Beeinträchtigung nicht mehr los, er ist dauerhaft auf dieses Hilfsmittel angewiesen. Was alle gemeinsam haben, ist dass es z.B. schwierig ist schwere Türen aufzumachen, weil entweder hat man beide Hände voll mit den Krücken, vom Rollstuhl brauch ich hier gar nicht anfangen, oder man ist eben situativ so aus dem Gefecht gesetzt, dass so ne große monsterschwere Tür im Moment eben auch ein Hindernis darstellt. Ein anderes Beispiel dafür wäre eine dauerhaft gehörgeschädigte Person, die dahingehend permanent auf Hilfe angewiesen ist. Während eine Person mit einer Ohrentzündung mehrere Tage schlecht hören kann, oder eine Person auch auf einem Konzert oder in der lauten Bahn ihr Gegenüber nicht gut verstehen kann. Vielleicht hast du auch mal den Moment gehabt, in dem du eine Instagram oder TikTok Reels nur still anschauen konntest, und die Untertitel dir dann aber verraten haben, was die Person gerade sagt. Ziemlich praktisch, oder?
Du merkst also: Digitale Barrierefreiheit kommt tatsächlich uns allen zugute. Denken wir an ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr so gut sehen oder hören können. Oder an jemanden mit einer vorübergehenden Verletzung, wie einem gebrochenen Arm, der plötzlich Schwierigkeiten hat, die Maus zu benutzen. Es gibt unendlich viele Beispiele, die hier passen würden.
Selbst Menschen ohne irgendwelche Einschränkungen profitieren, z.B. wenn sie in einer lauten Umgebung unterwegs sind und die Untertitel eines Videos lesen möchten. Das nennt man auch Curb-Cut-Effekt. Der kommt daher, dass man mal angefangen hatte für Rollstuhlfahrer die Bordsteine abzusenken, damit die besser bzw. überhaupt gut darüber kommen, und dann festgestellt hat, dass das auch z.B. beim Kinderwagen-Schieben oder Inlineskaten super praktisch ist.
Barrierefreiheit sorgt also dafür, dass digitale Inhalte für alle zugänglich und nutzbar sind, unabhängig von den individuellen Fähigkeiten oder der aktuellen Situation.
Der zweite Mythos, den wir uns ansehen, ist „Barrierefreiheit bedeutet nur, dass eine Webseite für Blinde zugänglich ist“. Klar, Screenreader-Unterstützung ist wichtig, das ist eine Technologie, die die Inhalte einer Webseite einer Person vorlesen, aber das ist nur ein kleiner Teil des Ganzen.
Barrierefreiheit umfasst, wie wir ja auch gerade eben beim letzten Punkt gesehen haben, so viel mehr: Da sind Menschen mit motorischen Einschränkungen, die vielleicht Schwierigkeiten haben, eine Maus zu verwenden, oder solche mit kognitiven Beeinträchtigungen, die einfache und klare Sprache brauchen. Auch neurodivergente Menschen, mit bspw. Autismus oder ADHS, haben individuelle Bedürfnisse, die eine Teilnahme für sie erst ermöglicht. Auch hier ist aber wieder wichtig im Kopf zu behalten, was ich schon mal gesagt: Kennt man einen Autisten, dann kennt man einen. Versuche also bitte unbedingt verallgemeinernde Aussagen zu vermeiden, und gewöhne dir an, Individuen sensibel zu fragen, was sie denn für eine Teilhabe benötigen.
Es geht also nicht nur um die Zugänglichkeit für Blinde, wie das viele Menschen annehmen, sondern um eine ganzheitliche Betrachtung der Bedürfnisse verschiedener Nutzergruppen. Nur so können wir sicherstellen, dass wirklich jeder Zugang zu digitalen Inhalten hat.
Kommen wir zum dritten Mythos „Barrierefreiheit ist teuer und aufwendig“. Das ist ein häufiges Argument, warum viele Unternehmen und Entwickler davor zurückschrecken, ihre Websites oder Apps barrierefrei zu gestalten. So weit müssen wir aber gar nicht schauen, es reicht z.B. schon die Lehre an Universitäten anzugucken. Ein Beispiel, das hier gut passt ist aus der Corona-Zeit, in der ein Professor für allgemeine Psychologie 600 Minuten lang ohne Video zu seinen Folien gesprochen hat, und man das Video nicht pausieren konnte, ohne den Fortschritt zu verlieren. Aber nicht nur das ist problematisch, teilweise sind z.B. auch wichtige Formulare nicht barrierefrei zugänglich für alle.
Das Argument, was viele hierfür benutzen, ist, dass es super aufwändig wäre diese Inhalte barrierefrei zu gestalten. Und das mag am Anfang in manchen Aspekten womöglich auch so anfühlen – denn es ist erstmal eine Umgewöhnung. Z.B. in einer PowerPoint Alternativtexte einzufügen oder Bilder als dekorativ zu markieren. Aber mal Hand aufs Herz: Das sind relativ einfache, und kostengünstige Möglichkeiten, um z.B. bei Präsentationen Barrierefreiheit umzusetzen. Bei Zoom die Untertitel einzustellen, sind vielleicht einmalig drei Klicks, und ermöglichen dabei den Nutzern Untertitel in verschiedenen Sprachen selbstständig bei sich am Computer ein- oder auch auszustellen. Es gibt auch zahlreiche weitere Tools und Ressourcen, die helfen, Barrierefreiheit ohne großen Aufwand zu erreichen.
Langfristig kann Barrierefreiheit sogar Kosten senken, indem sie das Risiko von rechtlichen Problemen reduziert und die Zufriedenheit und Loyalität der Nutzer erhöht. Das gilt vor allem auch, wenn Software von Organisationen eingekauft wird. Warum also kompliziert, wenn es auch ganz einfach geht?
Kommen wir zum vierten Mythos für heute: Barrierefreiheit schränkt das Design ein und führt z.B. zu langweiligen Webseiten. Das ist schlichtweg falsch! Gute Barrierefreiheit bedeutet nicht, dass man auf kreatives Design verzichten muss. Es gibt unzählige Beispiele für wunderschön gestaltete, barrierefreie Websites. Kreativität und Funktionalität schließen sich nicht aus, sondern können Hand in Hand gehen. Es ist alles eine Frage des durchdachten Designs.
Außerdem, das betone ich bei PowerPoint Folien zum Beispiel immer wieder: Ein barrierefreies Design kommt in der Regel auch wieder allen Zugute. Was meine ich damit? Eine barrierefreie Folie ist z.B. gut strukturiert und hat einen ausreichend hohen Farbkontrast – rot auf schwarz wäre also zum Beispiel nicht geeignet. Genauso wäre es wichtig Bilder mit einem Alternativtext zu beschreiben, damit blinde Leute überhaupt Zugang zu den im Bild enthaltenen Informationen erhalten kann, gleichzeitig hilft das allen Leuten auch im Nachgang Abbildungen nachvollziehen zu können.
Anstatt davor zurückzuschrecken, sollten wir also Barrierefreiheit von Anfang an mitdenken, und nicht last-minute merken, dass eigentlich nichts barrierefrei ist.
Übrigens ein kleiner Realitätscheck an der Stelle: Mir ist bewusst, dass es durchaus auch Webseiten gibt, die z.B. für blinde Menschen konzipiert sind und für sehende dann total schwierig zum Koordinieren sind. Das ist auch nicht der Sinn der Sache – die Inhalte sollten für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein.
Der letzte Mythos für heute, den ich mitgebracht habe, ist „Barrierefreiheit ist eine einmalige Aufgabe“.
Viele denken, dass Barrierefreiheit einmal implementiert werden kann und dann erledigt ist. Als Vicky und ich das vor kurzem einer Person versucht haben zu erklären, kam dann in etwa der Satz „Das turnt mich schon direkt ab“.
Das ist extrem kritisch zu betrachten, weil wir ja auch schon an dem Punkt waren, an dem wir festgestellt haben wie unglaublich wichtig die Gesamthaltung und Offenheit für das Thema ist. Es geht nicht darum mal eben schnell eine Checkliste abzuarbeiten, und dann ist z.B. das Event barrierefrei. So funktioniert das nicht. Wir erinnern und daran zurück „Kennst du einen Autisten, dann kennst du einen“. Damit will ich nicht Autismus hervorheben, sondern eben wieder die Tatsache, dass die individuellen Bedürfnisse sehr anders sein können, und jede Person selbst am besten was, was ihr hilft. Es geht also darum, offen zu sein und immer wieder zu fragen „was brauchst du?“, und das nicht nur einmal so zu machen und ab dann einfach immer diese Punkte auf Biegen und Brechen umzusetzen, obwohl die nächste Person vielleicht ganz andere Anliegen hat.
Barrierefreiheit ist ein fortlaufender Prozess, der regelmäßiges Überprüfen und Anpassen erfordert. Genauso wie das auch in der Wissenschaft allgemein so ist, dass es immer wieder neue Informationen gibt, die die alten updaten, gilt das auch bei diesem Thema digitale Barrierefreiheit.
Damit bin ich auch am Ende dieser Folge angelangt. Wenn ich das Ganze nochmal in einem Satz zusammen fassen müsste, dann wäre das wahrscheinlich „Embrace Bildung, denn Bildung ist ein Recht für alle und sollte daher in derselben Qualität auch allen Menschengruppen zugänglich gemacht werden“.
Achte in deiner Umgebung mal selbst darauf, ich bin gespannt was du beobachtest!
Eine begegnungsreiche Woche wünsche ich dir, alles Gute und bis zum nächsten Mal. Tschüs!
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